Was sich nach den Aussagen einiger Spielen angedeutet hatte, wurde heute von Frank Baumann vollends konkretisiert: „Wir wollen nach Europa.“. Nachdem ich meinen vor Schreck fallengelassenen Kaffee aufgewischt, meine Brandflecken am Bein gekühlt und eine neue Hose angezogen habe, musste ich erst einmal recherchieren, ob Franky (Baumann) von einem anderen Verein abgeworben wurde. Aber wo soll er sonst hin? Das Traumpaar Franky und Flo ist in keinem anderen Verein vorstellbar. Die Hochzeit wurde jetzt für den 19. Mai 2019 angesetzt – ein Tag nach dem letzten Spieltag der Saison und nach der hoffentlich vollzogenen Qualifikation für Europa.
Aber mal im Ernst: Ist das noch mein Werder Bremen? Nach 5 Jahren Abstiegskampf? Nachdem man sich so oft nach der Hinrunde schon angeguckt hat zu welchen Auswärtsspielen man in der zweiten Liga am ehesten fahren kann? Nachdem man trotz teilweise bärenstarker Rückrunden immer noch so ein mulmiges Gefühl im Magen hatte, dass gleich die Serie wieder reißen und die Abstiegsängste zurückkommen könnten?
Oder ist das jetzt endlich wieder mein Werder Bremen? Dieser Verein, in dem wieder eine große Familie zusammen wächst, in dem Trainer und Sportdirektor wieder Hand-in-Hand gehen, in dem mittelmäßige Spieler wieder zu großen gemacht werden, in dem junge Spieler aus der Jugend wieder mitmischen, in dem Claudio fucking Pizarro spielt, in dem traumhafte Kombinationen zu vielen Toren führen und gleichzeitig auch einige eingeschenkt werden, in dem wir Meister in der Allianz Arena werden – okay, vielleicht zu viel des Guten. Natürlich ist vieles davon zurzeit mehr eine Idee als wirklich umgesetzt, aber alles wirkt so stimmig. Ich versuche meine grün-weiße Brille abzunehmen, aber der Norden ist nun mal grün-weiß und ich finde nur wenige Anhaltspunkte für Kritik: ein verlässlicherer Back-up für Bargfrede, eine spielstärkere Alternative für die Innenverteidigung, ein…..mir fällt schon nichts mehr ein. Die Euphorie, die meines Erachtens Kohfeldt durch seine persönliche wie auch seine Leistungen als Trainer entfacht hat, trieb durch die Transfers im Sommer zu einer nie dagewesenen Spitze, die nur noch durch dominante Bundesliga-Auftritte getoppt werden könnte. Diese Euphorie scheint sich auf die Spieler und die Verantwortlichen umgeschlagen zu haben, sodass es jetzt heißt: „Wir wollen nach Europa.“
Vermutlich hat die Erkenntnis dieses Ziel auszurufen mit der Verpflichtung von Davy Klaassen begonnen. Kaum vorstellbar, dass man ihn mit dem „gesicherten Mittelfeld“ nach Bremen hätte lotsen können. Der „absolute Fixpunkt“ hat quasi alles, was der Verein auch hat: Ruhe in der Situation, gute Portion an Können und gleichzeitig noch viel Potential nach oben. Nicht zu vergessen der Karriereknick. Der dauerte bei Werder hoffentlich länger als bei Klaassen, denn nun will man zusammen da raus und „erste Runde Monaco, zweite Runde Gent, nach La Coruña haben wir verpennt. Vielleicht nach Liverpool, vielleicht nach Parma, vielleicht nach Istanbul, das wär vielleicht ein Drama. Europapokaaal, Europapokaaal […]“.
Jaja, die grün-weiße Brille. Jetzt mal ab damit:
Ohne Frage ist die Zielsetzung „Europa“ ambitioniert. Man kann sagen „das Potential hat die Mannschaft“, aber das haben in der Bundesliga auch andere: Bayern, Dortmund, Leverkusen, Hoffenheim, Leipzig, Schalke, Gladbach und eventuell auch Stuttgart. Natürlich kann man nach dem Prinzip „irgendwer schwächelt immer“ davon ausgehen, dass ein oder zwei dieser Mannschaften es nicht schaffen, aber genauso gibt es jede Saison auch Überraschungen.
Klar ist auch, dass Kohfeldt in der letzten Saison gezeigt hat, was er kann, doch auch das haben seine Vorgänger getan und dann eine schlechte Hinrunde erwischt. Anders ist allerdings die Wertschätzung des Trainers. Das Vertrauen, was ihm von der Vereinsführung entgegengebracht wird und die positiven Äußerungen verschiedener Spieler, welche sich, wie z.B. Klaassen, wegen ihm für Werder entschieden haben, sind äußerst bemerkenswert. Eine schlechte Hinrunde würde wohl dazu führen, dass eine nie dagewesene Enttäuschung die nie dagewesene Euphorie verdrängt und ich kann mir keine Möglichkeit vorstellen wie diese wieder aus der Welt geschafft werden sollte.
Genauso wenig kann ich mir aber vorstellen wie diese vor Selbstbewusstsein strotzende Mannschaft und dieser Trainer, der immer einen Plan hat, die Hinrunde komplett versauen soll. Kohfeldt hat eben nicht nur diesen EINEN Plan und ist damit nicht vergleichbar mit beispielsweise Peter Bosz, der bei Dortmund wegen jener Begründung gescheitert ist. Kohfeldt hat bereits bewiesen wie er auch während des Spiels Systeme dem Gegner anpasst, nur muss er sich dabei auf seine Stützen verlassen. Letzte Saison waren das Moisander und Kruse. Diese Saison hat Architekt Baumann daran gearbeitet und vor allem mit Klaassen eine weitere Stütze dazu geholt. Trotzdem würde ein Ausfall einer dieser drei Spieler extrem schmerzen und dem Spiel viel Qualität nehmen. Auf der anderen Seite sind es junge Spieler von denen man eine Leistungssteigerung erwarten darf wie bei Augustinsson und Eggestein. Hinzu kommt, dass der Konkurrenzkampf und die Breite des Kaders in der Offensive einen hoffen lassen, dass dort 120% abgeliefert wird – aktuell ist sogar Florian Kainz im Formhoch!!! Ich glaube zwar nicht (außer an den Fußballgott natürlich), bete aber jede Nacht, dass es so bleibt und andere folgen werden.
Vieles in dieser Mannschaft gibt einem viel Hoffnung: die Mannschaft wirkt befreit von negativem Abstiegsgeschwafel, Kruse will nochmal richtig abliefern in seiner Karriere, seine Buddys Fin und Martin stehen bald neben ihm, Rekordeinkauf Klaassen verspricht so viel Gutes, junge Spieler wollen unbedingt den nächsten Leistungsschritt machen (Rashica nicht zu vergessen!), die Abwehr letzte Saison war so gut wie ewig nicht mehr, der Trainer weiß immer die richtigen Antworten und dann haben wir da auch noch diese Krake im Tor.
Nach all dieser Schwafelei kommt bei mir am Ende nur ein phrasenhaftes Fazit zum Thema „Zielsetzung Europa“ heraus: alles andere wäre falsch! Mit dem Abstieg darf dieser Kader nichts zu tun haben und das „gesicherte Mittelfeld“ will irgendwie auch niemand – vor allem Siegertyp Kohfeldt nicht.
Natürlich wäre ein 8. Platz auch keine große Enttäuschung, aber die Jungs brauchen den Ansporn etwas zu erreichen und dieser wahnsinnige Kohfeldt hat diesem ganzen Verein den Siegeswillen wieder eingetrichtert.
Es ist an der Zeit wieder aufzustehen, sich nicht zu verstecken. Der Verein hat, wie ich, heftig Bock auf diese Saison und es kribbelt seit Wochen am ganzen Körper. Ich trage gerade ein T-Shirt von vert-et-blanc auf dem steht „the north will rise again“ und scheiße, ja: Werder Bremen ist zurück und die Bundesliga sollte sich warm anziehen, wenn die Nordmänner wieder durchs Land streifen.
P.S.: Wenn das am Samstag gegen Hannover in die Hose geht, weine ich kurz.
Guter Text!